Die traditionelle Fastnacht ist in Gefahr

Karnevalsexperte: Die traditionelle

Fastnacht ist in Gefahr

Erstellt: 19.02.2023, 22:21 Uhr

 

Von: Mark-Joachim Obert

Klaa Paris: Dort lebt die Fastnacht. Wie hier bei den Gardetänzerinnen bei ihrem letzten Umzug im Februar 2020. © Michael Faust

Der Karnevalsexperte und Buchautor Günter Schenk spricht über eingebildete und wahre Gefahren für die fünfte Jahreszeit - und was Klaa Paris besser macht als der Große Rat.

 

Frankfurt -Wie alle Kulturtraditionen verändert sich auch die Fastnacht stetig - seit dem Smartphone und den sozialen Medien mehr denn je. Vor allem die institutionalisierte Fastnacht mit ihren auch als steif und bierernst empfundenen Ritualen hat es schwer. Aber ist das ein Problem? Fastnachtsexperte und Buchautor Günter Schenk sieht auch Chancen. Mit ihm sprach Redakteur Mark Obert.

 

Herr Schenk, Sie sind ein weitgereister Karnevalsexperte aus Mainz, kennen närrische Bräuche von Portugal bis Polen, von Malta bis Dänemark aus eigenem Erleben. Genießt unsere Frankfurter Fastnacht bei Ihnen überhaupt einen Stellenwert?

 

Ja natürlich, aber eher die ursprüngliche Fastnacht wie in Klaa Paris. Dort lebt die Fastnacht. Sie lebt in Frankfurt, aber weniger als großstädtisches Ereignis.

 

Das dürfte der Große Rat mit seinem Umzug durch die Innenstadt nicht gerne hören. Der hat je nach Wetter auch viele Zuschauer.

 

Zuschauer ja! Aber Fastnacht darf man nicht an Zahlen messen! Wahre Narren können sich mit solchen Großveranstaltungen immer weniger identifizieren, weil sie eben nur Zuschauer hinter Absperrgittern sind und von Sicherheitspersonal von den Menschen im Umzug abgeschirmt. Fastnacht heißt für mich aber: in Kontakt kommen. Fastnacht ist ein Rollenspiel - das braucht keine Zuschauer, sondern Akteure.

 

Wenn also Großveranstaltungen aus Sicherheits-, TÜV- und sonstigen Kosten gefährdet sind und Prunksitzungen wegen Nachwuchsmangel bei Gardemädchen und Büttenrednern, hält sich Ihr Bedauern in Grenzen?

 

Die Frage ist, ob es ein Verlust wäre oder nicht doch eher ein Gewinn, wenn die Fastnacht wieder bodenständiger und kleinteiliger würde. Persönlich bin ich viel lieber bei der urigen Fastnacht, die vom Miteinander lebt, vom Ich, Du und Wir - wie in Heddernheim, wie in Dieburg oder vielen anderen Dörfern. Da ziehen die Menschen noch immer gern mit Bollerwagen voller Getränke und Speisen umher, singen, tanzen, haben Spaß. Da gibt es nur Akteure, keine oder kaum Zuschauer. Manchmal wird sogar noch an die Ursprünge der Fastnacht erinnert.

 

Wie das?

 

Im Januar stellen die Narren wie im Rheingau ihre Weihnachtsbäume vor die Türen und schmücken sie mit Fastnachtsorden, Zugplaketten und Luftschlangen. Erste Vereine, die das inzwischen schon institutionalisiert haben, verweisen damit auf das Wesen der Fastnacht als Umgang zum Jahreswechsel. Schon im ersten Jahrtausend gab es Umzüge maskierter Gruppen, auch wenn es den Begriff Fastnacht damals noch nicht gab. Dass man zur Jahreswende feierte, also zwischen dem 11.11., dem Martinstag, und dem 2.2., Mariä Lichtmess, hatte den Grund, dass die Mehrzahl der Menschen im Winter nicht arbeitete. Da blieb viel Zeit zu persönlichen Begegnungen und Feiern.

 

Industrialisierung und Kapitalismus dürften dieser Auszeit ein Ende bereitet haben?

 

Nein, den Todesstoß versetzte diesen Narren die Kirche. Deren Bischöfe hatten Sorge, dass die Menschen statt in der einst bis Mariä Lichtmess dauernden Weihnachtszeit in die Kirche zu gehen, lieber mit Freunden um die Häuser ziehen. Deshalb schufen sie die Fastnacht als Schwellenfest zur vorösterlichen Fastnachtszeit. Das bis dahin oft wochenlange närrische Treiben zum Jahreswechsel wurde so auf einen Tag komprimiert, den Fastnachtsdienstag. Aus dem einen Tag aber sind inzwischen auch wieder Wochen geworden.

 

Ist das gut oder schlecht?

 

Wir laufen heute Gefahr, dass die Fastnacht zum Alltag wird und nicht mehr als Auszeit gesehen wird, in der die Welt für eine kurze Zeit Kopf stehen sollte. Auch die Kommerzialisierung des Festes wächst. Früher schneiderte man, wie auch meine Mutter, die Kostüme für sich und die Kinder selbst, heute liefern die Festausstatter, Kostümverleiher und Amazon. Auch Sitzungen werden häufig nicht mehr von Vereinen bestückt, sondern von Agenturen, die Büttenredner, Kapellen und Ballett organisieren. Fastnacht ist zu einem Wirtschaftsbetrieb mit geschätzten vier bis fünf Milliarden Euro Umsatz geworden.

 

Was ist das Problem?

 

Dass Fastnacht Arbeit schafft, ist nichts Neues und Schlechtes. Aber wir dürfen das Fest nicht an den Kriterien der Unterhaltungsbranche messen, die auf der einen Seite nur Zuschauer, auf der anderen immer mehr Profis auf der Bühne kennt. Das ist närrisches Erleben auf Distanz! Fastnacht aber ist ein Fest der Begegnung, in dem auch Platz fürs Scheitern sein muss, für das Nicht-Perfekte. Ich erinnere mich an zwei Büttenredner, die auf einer Sitzung nacheinander fast dasselbe erzählt haben, weil sie sich aus derselben Internetquelle bedient hatten. Für mich war das kein Drama. Plagiate sind ja längst ministrabel!

 

Sie fürchten, dass sich bald kein Amateur mehr auf die Bühne traut?

 

Hoffentlich nicht! Deshalb sollten die Vereine alles tun, Hürden für Bühnenauftritte abzubauen und mehr Raum für närrische Präsentationen zu schaffen. Schließlich ist Fastnacht ein Volksfest, das jedem offen steht. Außerdem gilt es, das Ehrenamt zu fördern. Die vielen Idealisten, die sich um die Gestaltung der Saal- und Straßenfastnacht kümmern, mehr zu unterstützen. Wir brauchen sie dringend, sonst läuft die Fastnacht wie in Venedig aus dem Ruder.

 

Wie das? Venedig ist doch für viele ein karnevalistisches Traumziel, das auch Busunternehmen gern als Ausflugsziel ansteuern.

 

In Venedig treffen sie zu Karneval keine Venezianer mehr. Seit Tochterfirmen aus dem Berlusconi-Konzern dort Regie führen, haben die Einheimischen dem Fest den Rücken gekehrt. Die Folge ist, wie eine Doktorarbeit herausgefunden hat, dass sich dort heute tausend Touristen um ganze fünf Maskierte drängeln, um ein Selfie zu machen. Da sind nur noch Ichs unterwegs, das närrisch nötige Du ist verschwunden!

 

Von solchen Verhältnissen sind wir doch weit entfernt.

 

Noch! Aber auch in Deutschland touren Redner und Sänger durch die ganze Republik. Ich kenne Musikgruppen, die an Fastnacht nie dort auftreten, wo sie zu Hause sind, sondern dort, wo am meisten bezahlt wird. Das fördert keine lokale Identität, von der die Fastnacht ja lebt. Mich schmerzt, wenn in Frankfurt Kölner oder Mainzer auftreten, die Frau Rauscher aus der Klappergass’ aber immer mehr verstummt. Lokalkolorit ist doch das Salz in der närrischen Suppe!

 

Ich breche mal eine Lanze für Frankfurt: Lokale Politik spielt beim Umzug immer eine große Rolle. Peter Feldmann war gestern als Schwellkopp zu sehen.

 

So muss es auch sein, wenn ein Oberbürgermeister für so viele Skandale gesorgt hat.

 

Ein Frankfurter Fastnachter berichtete uns, dass sich kaum mehr jemand auf eine längere Büttenrede konzentrieren könnte.

 

Das ist kein Frankfurter Phänomen. Das hat man in diesem Jahr auch in Mainz oder Köln, eigentlich überall im Land, erlebt. Wenn die Rede die Leute nicht packt, schwillt der Geräuschpegel im Saal schnell bedrohlich an, weil sich alle zu unterhalten anfangen.

 

Liegt das an der sinkenden Qualität der Beiträge?

 

Eher an den Smartphone-Generationen, die sich kaum noch auf eine längere oder gereimte Rede einlassen können oder wollen. Mit der deutschen Sprache haben zudem immer mehr Menschen Probleme. Die brauchen wir aber, wenn die Saalfastnacht nicht zu einem musealen Brauch werden soll. Ich kann die Unruhe in den Sälen auch ein Stück weit verstehen, weil das Publikum in den Sälen heute kaum Möglichkeiten hat, seine Befindlichkeit auszudrücken.

 

Buhen darf doch jeder - oder gab’s mal ganz andere Ausdrucksformen?

 

Anfangs der organisierten Fastnacht wie in Mainz standen die Büttenredner auf einer Art Falltür. Und wenn den Leuten im Saal eine Rede missfiel, schüttelten sie ihre Köpfe so heftig, dass die Glöckchen an den Narrenkappen bimmelten. Erreichte das Gebimmel eine gewisse Lautstärke, wurde die Falltür geöffnet, verschwand der Redner im Untergrund. Später hat man diesen sogenannten Einbruch gemildert, schüttete ein Harlekin bei lautem Bimmeln den Redner mit einem Sack Mehl zu, in dessen Staubwolken er verschwinden konnte. Das waren eindrucksvolle Spaßaktionen!

 

Kurzum: Sie wollen mehr Anarchie, mehr Party, weniger bierernste Vereinsmeierei.

 

Sigmund Freud hat die Fastnacht als einen gebotenen Exzess definiert. Andere Kulturtheoretiker bezeichneten sie als „Fest der allvernichtenden und allerneuernden Zeit“, das Polaritäten des Wechsels und der Krise vereint und das Geheiligte mit dem Profanen vermengt. Das ist der Anspruch, den auch ich an die Fastnacht habe. Sie können das ruhig Anarchie nennen, ich nenne es lustvolles Leben.

 

Was ist mit politischer Relevanz? Wer hält den Eliten aus Politik und Wirtschaft noch den Spiegel vor?

 

Zugegeben, früher war es ein Alleinstellungsmerkmal der Fastnacht, gesellschaftliche Missstände zu reflektieren, aber schon Ende des 19. Jahrhunderts hat die Kritik an der Obrigkeit mit dem Beginn des Kabaretts ein ganzjähriges Forum gefunden. Heute sind es zudem wöchentliche Fernsehshows, die das politische Auf und Ab kritisch begleiten. Deshalb sollten die Narren sich mehr um die Lokalpolitik kümmern, denen schaut sonst allenfalls die Lokalzeitung auf die Finger. Und wenn die verschwinden, sind die Narren erst recht in der Pflicht!

 

War die Fastnacht früher wirklich anarchischer, wilder?

 

Lustvoller auf alle Fälle! Sexuell zum Beispiel hat sie an Dynamik verloren. So wurde Ehebruch durch eine Frau im 19. Jahrhundert allenfalls zur Fastnachtszeit gesellschaftlich toleriert. Das ist heute anders! Wie stark die sexuelle Kraft des Fastnachtstreibens einmal war, kann man auch daran ablesen, dass die Stadt Nürnberg im Mittelalter eigene Flächen ausgewiesen hat, in denen ehestandsähnliche Bewegungen - wie es damals hieß - öffentlich möglich waren.

 

Eine Zeit der erlaubten Enthemmung ist Fastnacht aber noch immer, wie man etwa in Köln erleben kann.

 

Klar, und eine entscheidende Rolle dabei spielt der Alkoholkonsum. Aber auch da hat sich Wesentliches geändert. Früher haben die Menschen gewusst: Der Rausch steht am Ende eines Festes. Heute kommen viele schon mit einem Rausch zum Fest an. Da darf man sich nicht wundern, dass Veranstaltungen aus dem Ruder laufen. Wissen Sie übrigens, auf welche zwei Dinge ein Fastnachter verzichten sollte?

 

Jetzt bin ich gespannt.

 

Auf Smartphone und Armbanduhr. Beide brauche ich im großen närrischen Rollenspiel nicht. Wenn es Zeit ist zu gehen, sagt mein Körper, nicht der Zeiger auf der Uhr oder die Uhrzeit auf dem Smartphone.

 

Herr Schenk, welches Ventil öffnen Sie an Fastnacht? Welchen Dampf lassen Sie als Narr ab?

 

Für mich ist schon die Verkleidung befreiend. Am Rosenmontag kann ich mit zwei verschiedenen Schuhen das Haus verlassen, da sieht mich keiner schräg an. Als was ich mich in diesem Jahr verkleide, weiß ich noch nicht. Hängt ganz vom Wetter ab.

 

Als Indianer-Häuptling darf man ja nicht mehr gehen.

 

Diese Debatte jetzt auch an Fastnacht zu führen, ist absurd. Fastnacht ist doch kein Alltag, sondern ein Stück verkehrter Welt, in der es darum geht, für eine begrenzte Zeit aus dem Alltag auszubrechen und in eine andere Rolle zu schlüpfen. Als Bankdirektor mal als Penner aufzukreuzen, als Kassiererin im Supermarkt mal als Prinzessin zu glänzen oder als junger Bursche im Sheriffgewand mit einer Plastikpistole rumzufuchteln. Wenn das eingeschränkt oder gar verboten wird, ist meine Fastnacht tot.